Artikel IPM

Mit Brustgurt ins Theater

30. March 2006

Mit Hilfe von Testpersonen erforschen Arbeitsmediziner, was künftig auf Menschen zukommt, die in ihrem Job vor mehreren Bildschirmen sitzen.

Warnemünde Ein Brustgurt unter dem Hemd. Am Gürtel ein kleiner Kasten, kaum größer als ein Handy. So bewegt sich Otto Testperson zurzeit durch die Labore des Centers for Life Science Automation (celisca) im Technologiezentrum Warnemünde. Auch im Theater oder beim Joggen legt er das Zubehör nicht ab, das ihn außerdem in den Schlaf begleitet. Hin und wieder muss die Testperson eine kleine Pause einlegen, um eine Nachricht ins Handy zu tippen oder ein Wattestäbchen mit der Probe seines Speichels zu versehen und in einem Glasröhrchen verschließen. Mehr als 20 Menschen nehmen an den Feldversuchen der celisca-Arbeitsgruppe unter Leitung von Dr. Regina Stoll teil. Die Wissenschaftler wollen herausfinden, wie sich die Belastungen, die künftig ein vollautomatisierter Arbeitsplatz, auf dem man sechs bis acht Computer-Bildschirme aufmerksam beobachten und auf Ereignisse reagieren muss, auf die Gesundheit der Arbeitnehmer auswirken können.

"Bisherige arbeitsmedizinische Forschungen hatten schwere körperliche Arbeit im Blick, wir widmen uns angesichts der veränderten Arbeitsumwelt der psycho-mentalen Belastung", sagt Prof. Stoll. Zunächst hat das celisca-Team Parameter ermittelt, die Auskunft geben könnten. "Dazu gehören Herzfrequenz, Herzfrequenzvariabilität, Blutdruck und so genannte Stressmarker, wie Cortisol, Adrenalin und Noradrenalin", berichtet Dr. Dagmar Arndt, wissenschaftliche Mitarbeiterin am Institut für Arbeits- und Sozialmedizin der Universität Rostock (IfASM) und bei celisca gleichermaßen. Deshalb also die Geräte und die Wattestäbchen für Otto Testperson. Und das Handy? "Die Testpersonen teilen mit, was sie gerade tun: sitzen oder gehen, arbeiten oder relaxen", erläutert Dr. Steffi Kreuzfeld vom IfASM. Später werden die Daten mit den Tätigkeiten abgeglichen.

Das Team hat ein 24-Stunden-Monitoring gestartet. "Wichtig war, Parameter und Verfahren zu deren Messung zu finden, die hieb- und stichfeste Ergebnisse liefern, aber trotzdem unsere Testpersonen im Alltag nur wenig einschränken", macht Dr. Stoll deutlich. Mehrmals am Tag Blut abzunehmen, sei zum Beispiel nicht möglich, nicht nur wegen des hohen Aufwandes, sondern auch, weil bei vielen Menschen beim Anblick einer Injektionsnadel der Blutdruck automatisch steige.

Das celisca-Team beschränkt sich nicht auf messbare Parameter. "Unser Ansatz ist komplexer", so Dr. Arndt. Neben dem Erfassen der Daten und der Tätigkeiten ermitteln die Wissenschaftler mit Hilfe von Tests das subjektive Befinden ihrer Probanden, die sich zu Beginn ihrer Teilnahme an den Versuchen einer Basis-Untersuchung zu ihrer individuellen Konstitution in Sachen körperlicher und psycho-mentaler Fitness unterziehen müssen.

Außerdem ändern sich die Arbeitssituationen für die Testpersonen: Jede von ihnen muss einfache Laborarbeit bewältigen, auf einem halbautomatisierten Arbeitsplatz, der durch manuelle Tätigkeiten mit Bildschirm-Beobachtung gekennzeichnet ist, aktiv werden und eben auch das ständige Sitzen vor mehreren Bildschirmen bewältigen. Die Wissenschaftlerinnen achten außerdem darauf, dass Frauen und Männern unterschiedlichsten Alters zu den Testpersonen gehören.

"Wie viel Automatisierung verträgt der Mensch, ohne die Gesundheit zu gefährden?", sei die Frage, die es zu beantworten gelte, so Regina Stoll. Die Ergebnisse interessieren aber nicht nur Arbeitsmediziner. "Wir entwickeln neue Systeme mit immer höherem Automatisierungsgrad. Sie sind aber nur hilfreich, wenn die neuen Anforderungen von den Arbeitnehmern zu bewältigen sind, ohne dass die Gesundheit Schaden nimmt", verdeutlicht Prof. Kerstin Thurow. "Ich habe inzwischen gelernt, dass Automatisierung nicht von allen von vornherein als Fortschritt gewertet wird, sondern dass oft Widerstände zu überwinden sind", räumt die celisca-Chefin ein. Deshalb lege man Wert auf Ausgewogenheit zwischen technischen und sozialen Aspekten und suche nach Kompromissen. "Der Mensch soll an hochautomatisierten Arbeitsplätzen gesund bleiben", benennt Dr. Stoll das Ziel. Und ergänzt: "Gut möglich, dass jeder dieser Arbeitnehmer Verantwortung für seine Fitness übernehmen muss."

ANJA NEUTZLING