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Das Sitzen im Orchester neu definiert

04. December 2008

Musiker sind motorisch vielseitig begabt und einseitig beansprucht. Gerade der Orchesterdienst verlangt äußerste moralische Disziplin sowie reproduzierbare feinmotorische Höchstleistungen unter beengten räumlichen Verhältnissen. Der persönliche Gestaltungsfreiraum ist sowohl in künstlerischer Hinsicht als auch bezüglich der Arbeitsplatzgestaltung extrem begrenzt. Vor allem letzteres kann zu gesundheitlichen Beeinträchtigungen führen.

Auch der Arbeitsplatz von Musikern ist Gegenstandvon arbeitsmedizinischer Kontrolleund Begutachtung, gerade in Deutschland, demLand mit der höchsten Orchesterdichte derWelt. Die notwendigen Anpassungen und Normierungensind aber schwerfälliger als die Modifikationendes Gegenstandes und hinken deshalbhinterher. Zu beachten sind neben derAkzeleration der Körperhöhe, dem wachsendenAnteil von Frauen in den Orchestern, denProportionsunterschieden bei international besetztenEnsembles auch das rasant wachsendeWissen aus der Musikphysiologie, Musikermedizin,Trainings-und Sportwissenschaften.Verschiedene Studien haben gezeigt, dass Beschwerdenim Bereich des Bewegungssystemsbei Musikern überdurchschnittlich häufig sind(Zaza, 1998; Seidel et al., 1999). Es gibt nebenden instrumentenspezifischen Musikerkrankheitenauch die in der Normalpopulation geläufigenRücken- und tiefsitzenden Kreuzschmerzen,die mit der einseitigen Haltung, räumlichenEnge, Sitzermüdung sowie ungeeigneten Sitzmöbelnzusammenhängen. Der jeweils verwendeteOrchesterstuhl ist also ein zentralesarbeitsmedizinisches Element sowohl für daskünstlerische Ergebnis als auch für den Erhaltder körperlichen Unversehrtheit des Musikers.Umfragen und Messungen ergeben die zum Teilmangelhafte Eignung herkömmlicher Musikerstühleund implizieren die Notwendigkeit fürErforschung und Innovation.Die Hochschule für Musik und Theater (HMT)beteiligt sich in Kooperation mit dem Institutfür Präventivmedizin und einem Entwicklerteam,bestehend aus Christiane Appel, KnutKietzmann,Tobias Piontke, Regina Stoll und JohannesPlath, an einer grundsätzlich neuenDefinition der Anforderungen an einenOrchesterstuhl. Neben der Erfindung einergebrauchsfähigen Alternative wurden vergleichendeUntersuchungen zwischen vorgefundenerund verbesserter Variante durchgeführt.AlsZielgrößen dienten: 1. Physiologische Sitzposition,2. dynamisches Sitzverhalten, 3. Vermeidungvon Sitzermüdung, 4.Verzicht auf komplizierteTechnik, 5. Stapelbarkeit, 6. Lautlosigkeit,7. Design, 8. Adaptation an die Körperhöhe, 9.gute Transporteigenschaften, 10. Ökologischeund ökonomische Korrektheit.Die Untersuchungen wurden an einer Gruppevon 19 Probanden, Studenten der FächerVioline und Viola an der HMT, durchgeführt.Zunächst wurden die subjektiven Ansprücheder Stuhlanwender in Form eines Fragebogenserfasst und vergleichbar gemacht. Zur Objektivierungder ergonomischen Beanspruchungerfolgte eine Messung der Lastwechsel desMusikers bezogen auf die Zeit, um einen Rückschlussauf die Sitzdynamik ziehen zu können.Zur Registrierung der Lastwechsel pro Zeitsowie der Druckverteilung unter den Sitzbeinhöckernwurde eine Druckmessplatte auf derSitzfläche der Stühle angebracht. Parallel zurDruckmessung wurde eine Videoaufnahmegemacht. Von den untersuchten Probandengaben 70 Prozent bereits bestehende, spielbedingteBeschwerden an. Als Gründe für dieEntstehung dieser Beschwerden wurden hauptsächlichfalsche Haltung, unzulängliche Sitzgelegenheitensowie Verkrampfung und Anspannungwährend des Spielens angegeben. Diesubjektive Bewertung der Stühle im Rahmender Fragebögen ergab, dass die Lehne und dieHöhe des neu entwickelten Stuhls positivbewertet wurden. In Bezug auf die Bequemlichkeitschnitt der herkömmliche Stuhl besserab, was eine Verbesserung der Prototypen nachsich zog. Die Auswertung der Druckmessungsoll eine Ermittlung der Lastwechsel pro Zeitund so einen Rückschluss auf die Sitzdynamikermöglichen. Anhand der Druckmessungen beispontanem Setzen auf die Stühle lässt sich erkennen,dass beim herkömmlichen Stuhl diegrößte Last auf dem Steißbein liegt, währendbeim neu entwickelten Stuhl die Last auf diebeiden Sitzbeinhöcker verteilt wird.Bei der Entwicklung bühnentauglicher Stühlespielen verschiedenste Aspekte eine Rolle. Sosind ästhetische, ökonomische, künstlerischeund musikermedizinische Gesichtspunkte zuberücksichtigen. Es ist bekannt, dass Ergonomie,also Funktionalität, nicht automatisch gleichbedeutendmit Bequemlichkeit ist. Aktives Sitzenbedeutet physiologische Beanspruchung desStütz- und Bewegungssystems sowie optimaleVoraussetzung für das künstlerische Resultat.Die leicht nach vorn geneigte Sitzfläche sowiedie tatsächlich nutzbare Rückenlehne verbindetdabei das Angenehme mit dem Nützlichen.Aufdiese Weise wird Sitzerschöpfung vermiedenund langfristig Beschwerden und Verschleiß-verformungen entgegengewirkt.